Regeln für die Digitalwirtschaft
Erweiterte Missbrauchsaufsicht (§ 19a GWB)
Mit der 10. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) wurde im Jahr 2021 die Missbrauchsaufsicht modernisiert und erweitert. Damit wird ein schnelleres und effektiveres Einschreiten gegen wettbewerbswidrige Praktiken großer Digitalkonzerne ermöglicht. Unternehmen mit einer „überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb“ kann das Bundeskartellamt bestimmte, für den Wettbewerb schädliche Verhaltensweisen untersagen. Eingriffe sind auch auf Märkten möglich, auf denen die Unternehmen (noch) nicht marktbeherrschend sind. Das ist ein bedeutender Unterschied zur bisherigen Missbrauchsaufsicht und erlaubt dem Bundeskartellamt frühzeitig einzugreifen, um die Märkte offen zu halten, Innovationen zu fördern und die Auswahlmöglichkeiten der Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen.
Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung
für den Wettbewerb
Von Unternehmen mit einer „überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb“ geht ein besonderes Gefährdungspotential für den Wettbewerb aus. Eine solche Situation liegt vor, wenn Unternehmen über marktübergreifende wirtschaftliche Machtpositionen verfügen, die vom Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierte marktübergreifende Verhaltensspielräume eröffnen. Das Gefährdungspotential besteht darin, dass Betreiber marktübergreifender digitaler Ökosysteme ihre Marktposition über verschiedene Märkte hinweg ausdehnen oder ihre Unangreifbarkeit absichern können.
Bei der Feststellung einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb können insbesondere folgende Faktoren relevant sein:
- Marktpositionen des Unternehmens,
- seine Finanzkraft oder sein Zugang zu sonstigen Ressourcen,
- ob das Unternehmen auf mehreren Märkten bzw. in mehreren Bereichen tätig ist und wie diese miteinander verbunden sind,
- der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten,
- die Bedeutung der Tätigkeit des Unternehmens für Marktzugänge sowie ein damit verbundener Einfluss auf die Geschäftstätigkeiten Dritter.
Was kann das Bundeskartellamt untersagen?
Nach Feststellung einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb kann das Bundeskartellamt die im § 19a GWB genannten Verbote aktivieren. Damit können z.B. die folgenden Verhaltensweisen untersagt werden:
- die Bevorzugung von eigenen Angeboten gegenüber denen von Wettbewerbern,
- „Aufrollen“ neuer Märkte: die Behinderung von Wettbewerbern, wenn das Unternehmen die eigene Marktstellung auf betroffenen Märkten schnell ausbauen kann, bspw. durch Kopplungs- bzw. Bündelangebot,
- Ausnutzen von Datenmacht: die Errichtung oder Erhöhung von Marktzutrittsschranken durch die Verarbeitung wettbewerbsrelevanter Daten, die das Unternehmen gesammelt hat,
- das Verweigern oder Erschweren der Interoperabilität von Produkten oder Dienstleistungen oder der Portabilität von Daten.
Beweislastumkehr
Die Untersagung eines bestimmten Verhaltens von Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb ist nach § 19a GWB nur möglich, soweit die jeweilige Verhaltensweise sachlich nicht gerechtfertigt ist. Ob eine Rechtfertigung vorliegt, müssen aber im Einzelfall die jeweiligen Unternehmen darlegen. Die damit verbundene Beweislastumkehr, die in der klassischen Missbrauchsaufsicht so nicht existiert, kann zu einer effizienteren Verfahrensführung beitragen.
Verkürzung des Rechtswegs
Zu einer schnelleren Verfahrensführung trägt die Verkürzung des Rechtswegs bei. Über Beschwerden von Unternehmen gegen die Entscheidungen des Bundeskartellamtes, die auf der Basis von § 19a GWB getroffen wurden, wird direkt vom Bundesgerichtshof entschieden und nicht wie sonst üblich zunächst in erster Instanz vom Oberlandesgericht Düsseldorf. Der Bundesgerichtshof ist hier ausnahmsweise auch Tatsacheninstanz. Im Streitfall kann diese Verkürzung dazu führen, dass eine finale gerichtliche Entscheidung schneller vorliegt, möglicherweise viele Monate oder gar Jahre früher.
GWB-Novellen: Das Gesetz hält mit der Digitalisierung Schritt
Neben der Einführung des § 19a GWB hat die 10. GWB-Novelle weitere Vorschriften der klassischen Missbrauchsaufsicht konkretisiert und erweitert (z.B. wird die sog. Intermediationsmacht bei Vermittlern zwischen mehreren Marktseiten berücksichtigt). Regeln für verbotenes Verhalten von Unternehmen mit relativer Marktmacht wurden mit Blick auf die Plattformwirtschaft angepasst (z.B. mit Blick auf das Kippen von Märkten („tipping“)). Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Datenzugang gegen angemessenes Entgelt zugunsten abhängiger Unternehmen angeordnet werden.
Schon 2017 hatte der Gesetzgeber wichtige Anpassungen mit Blick auf die Digitalwirtschaft vorgenommen. Im GWB wurde klargestellt, dass Märkte auch unentgeltlich sein können, denn in der Digitalökonomie müssen Nutzerinnen und Nutzer für Dienste häufig kein Geld bezahlen. Daneben sind auch Faktoren für die Beurteilung von Marktmacht aufgenommen worden, die insbesondere bei mehrseitigen Märkten und Netzwerken zu berücksichtigen sein können. Hierzu zählen z.B. Netzwerkeffekte, die parallele Nutzung mehrerer Dienste (sog. Multi-Homing) und der Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten.
Der Digital Markets Act als wichtiger EU-Digitalrechtsakt
Im Zusammenhang mit der Agenda der Europäischen Kommission zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas sowie ihrer Datenstrategie sind auf europäischer Ebene mittlerweile mehrere Digitalrechtsakte auf den Weg gebracht worden, darunter neben einem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act), einem Daten-Governance-Gesetz (Data Governance Act) und einem Datengesetz (Data Act) vor allem das Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act – DMA). Der DMA ist im November 2022 in Kraft getreten und gilt seit Mai 2023. Die Verordnung ermöglicht es der Europäischen Kommission, Unternehmen als sog. Torwächter bzw. Gatekeeper zu benennen und damit bestimmten Verhaltenspflichten zu unterwerfen. Der DMA gilt komplementär zum deutschen und europäischen Wettbewerbsrecht. Dabei bleiben nationale Regelungen zur Missbrauchsaufsicht über Digitalkonzerne (insb. der § 19a GWB) anwendbar, jedenfalls soweit sie auf Unternehmen angewandt werden, die von der EU-Kommission bislang nicht als Gatekeeper benannt sind, oder bereits benannten Gatekeepern damit weitere Verpflichtungen auferlegt werden. Das umfasst auch mögliche neue Verhaltensweisen, die sich in der Zukunft herausbilden könnten. Das Wettbewerbsrecht wird also auch in Zukunft im Digitalbereich wichtig bleiben und das Bundeskartellamt weiterhin eng mit der Europäischen Kommission und anderen Behörden kooperieren. Weiterführende Informationen zum DMA erhalten Sie auf der Webseite der Europäischen Kommission.
Für wen gilt der DMA?
Die EU-Verordnung gilt für sog. Torwächter bzw. Gatekeeper, die von der EU-Kommission benannt werden. Voraussetzung dafür ist u.a., dass das Unternehmen mindestens einen der in der Verordnung abschließend aufgezählten sog. zentralen Plattformdienste betreibt. Dazu gehören bspw. Online-Intermediationsdienste, Suchmaschinen oder soziale Netzwerke. Ferner muss der konkrete zentrale Plattformdienst u.a. als ein wichtiges Zugangstor von gewerblichen Nutzern zu Endnutzenden dienen.
Die EU-Kommission hat auf Grundlage des DMA bislang sieben Gatekeeper benannt: Alphabet, Amazon, Apple, ByteDance, Meta, Microsoft und Booking. Insgesamt wurden 24 zentrale Plattformdienste, die von Torwächtern bereitgestellt werden, benannt. Im Falle von Alphabet sind dies: die Google-Suche, Google-Werbedienste, Google Maps, Google Play, Google Shopping, Google Android, Chrome und YouTube. Im Falle von Amazon: Amazon Marketplace und Amazon-Werbedienste. Bei Apple: der App Store, Safari, iOS und IPadOS. Bei ByteDance: TikTok. Im Falle von Meta: Facebook, Instagram, WhatsApp, Messenger, Meta Marketplace und die Meta-Werbedienste. Bei Microsoft sind benannt: Windows PC OS und LinkedIn. Bei Booking: Booking.com.
Welche Regeln gelten im DMA?
Ist ein Unternehmen als Torwächter benannt, ist es durch die Verordnung unmittelbar anwendbaren Verhaltenspflichten unterworfen. Die Pflichten beziehen sich z.B. auf Online-Werbung, Vorinstallationen von Diensten, bestimmte Formen der Interoperabilität und Portabilität von Daten. Darüber hinaus müssen Gatekeeper z.B. Zugriff auf bestimmte Informationen sowie auf Daten gewähren, die im Zusammenhang mit der Nutzung der Gatekeeper-Plattform anfallen. Ferner dürfen sie Nutzerinnen und Nutzer nicht daran hindern, auf eine andere Plattform zu wechseln, oder ihre eigenen Dienste in einem Ranking bevorzugen.
Wer setzt den DMA durch?
Die behördliche Durchsetzung des DMA obliegt zentral der Europäischen Kommission. Der DMA erlaubt es Mitgliedstaaten jedoch, nationalen Wettbewerbsbehörden Befugnisse für eigene Ermittlungen im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen den DMA einzuräumen. Dies könnte insbesondere in Fällen von Bedeutung sein, in denen nicht von vornherein festgestellt werden kann, ob eine Verhaltensweise eines Gatekeepers unter den DMA, unter Wettbewerbsvorschriften oder unter beides fallen könnte. Mit der 11. GWB-Novelle wurden dem Bundeskartellamt entsprechende Befugnisse eingeräumt. Darüber hinaus sind mit der Novelle Vorschriften zur privaten Kartellrechtsdurchsetzung in Deutschland teilweise auf den DMA erstreckt worden.
DMA und § 19a – Gemeinsamkeiten
Die Vorschriften im DMA bauen überwiegend auf Erfahrungen aus früheren wettbewerbsrechtlichen Verfahren auf europäischer und nationaler Ebene auf. Dazu zählen auch Verfahren des Bundeskartellamtes gegen Facebook sowie gegen Booking (mehr dazu unter Verfahren gegen Digitalkonzerne). Es gibt auch gewisse Gemeinsamkeiten zum § 19a GWB: Beide Regelungen gelten für große Digitalunternehmen. Auch mit Blick auf Verhaltensweisen gibt es Überschneidungen. So ist etwa eine Selbstbevorzugung konzerneigener Dienste unter bestimmen Voraussetzungen grundsätzlich nach beiden Vorschriften erfassbar.
DMA und § 19a – wichtige Unterschiede
Bei der Erfassung von Unternehmen setzt der DMA auf sog. Vermutungsregeln, basierend auf Umsatz, Nutzerzahlen und der Marktkapitalisierung, und nimmt dabei grundsätzlich einzelne zentrale Plattformdienste in den Fokus. Bei § 19a GWB steht eine stärker dienste- bzw. marktübergreifende Perspektive im Vordergrund. Mit Blick auf die Verhaltensweisen weist der DMA einen spezifischeren Katalog von Ge- und Verboten auf, der unmittelbar für benannte Dienste der Gatekeeper gilt. Der § 19a GWB sieht hingegen eine Einzelfallprüfung von Verhaltensweisen mit der Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung vor. Der §19a GWB ist als Teil des deutschen Wettbewerbsrechts flexibler anwendbar, weil damit grundsätzlich auch andere oder neue Verhaltensweisen erfasst werden können, die möglicherweise in Zukunft ein Wettbewerbsproblem darstellen.